17 May – 28 June 2019
Druck machen! Zeitgenössische Druckgrafik der Künstlergruppe Le Chant de l’Encre
Municipal Gallery at “Leerer Beutel”, Regensburg
„Le Chant de l’Encre“ ist eine internationale, in Clermont-Ferrand beheimatete Vereinigung von 20 Künstlerinnen und Künstlern, die die Leidenschaft für die Druckfarbe, das Papier und die Praxis der Druckgrafik verbindet. Die Mitglieder tauschen sich über ihre künstlerischen Schöpfungen zu gemeinsamen Themen aus, laden andere Künstlerinnen und Künstler zu Projekten ein, realisieren kleine Editionen, bestreiten Ausstellungen und wirken gemeinsam bei kulturellen Veranstaltungen mit. Der Name der Vereinigung bezieht sich auf das Vorbereiten der Farbe beim Drucken. Beim Auswalzen der Farbe entsteht ein leises Geräusch, ein sanftes Singen – der Gesang der Druckfarbe: „Le Chant de l’Encre“. Die Ausstellung findet anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Clermont-Ferrand und Regensburg statt. Eigens für dieses Ereignis ist auch eine Gemeinschaftsarbeit zu Regensburg zu sehen.
Zu sehen sind Arbeiten von Manuel Alba, Estelle Aguelon, Lionel Balard, Michel Brugerolles, Marc Brunier-Mestas, Philippe Chassang, Gabrielle Cornuault, Henri Guibal, Ipiolo, Pierre Jourde, Christina Kirchinger, Cècilien Malartre, Pierre Mialon, Jacques Moiroud, Marie Naud, Delphine Raiffe, Roland Sabatier, Thierry Toth, Viola Corp und Irene Weiss.
Einführende Rede von Dr. Reiner Meyer:
Künstlerische Manifeste, Formulierte Gruppenziele, Aufrufe, Almanache und vielerlei schriftlich Fixiertes mehr, durchziehen die Kunst der klassischen Moderne! Denken Sie nur an das berühmte Programm der Dresdner Brücke: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen. Und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“
Diese Emphase findet sich in dem folgenden Zitat der Gruppe Chant de l’Encre so zwar nicht, aber das ist natürlich auch der anderen Zeit geschuldet. Die Aussage, der Gruppe, die ich Ihnen jetzt zitieren möchte, ist jedoch nicht minder interessant:
„Die Vervielfältigung eines Bildes ist mithilfe von digitalen Techniken einfach. Allerdings bedeutet das, die Verantwortung einem Gerät mit vorgegebenen grafischen Codes zu überlassen. Einzigartigkeit und Authentizität eines Kunstwerkes hängen kompromisslos von den Entscheidungen des Künstlers ab. Ein zwischengeschalteter Mechanismus kann der manuellen Arbeit jedoch nicht gleichkommen, da die Qualität der Trägermaterialien begrenzt ist und das kritische Denken des Künstlers oder vielmehr sein Blick und seine Hände nicht mehr zeitgleich agieren. Ohne die neuartigen Techniken abzulehnen, entdecken einige zeitgenössische Künstler, ob als Laie oder professionell, in der Tradition der Materialien, Werkzeuge und Handgriffe der Drucktechniken stichhaltige Modernität.“
Dieses Credo des Künstlerkollektivs Le Chant de l’Encre enthält eine ganze Reihe von Schlüsselbegriffen, die für das tiefere Verständnis seiner Kunst von großer Bedeutung sind:
1. Verantwortung
Gemeint ist die Verantwortung und wohl auch das Selbstverständnis der Gruppenmitglieder, ein in jeder Hinsicht überzeugendes künstlerisches Resultat zu erzeugen.
2. Einzigartigkeit und Authentizität
Auch darin manifestiert sich ein überaus hoher Anspruch etwas Einmaliges zu schaffen und das in einer Art und Weise, die glaubwürdig ist.
3. kompromisslos
Eine weitere Vokabel, die das Konsequente im künstlerischen Tun unterstreicht!
4. Entscheidungen und kritisches Denken des Künstlers
Das bedarf eigentlich überhaupt keiner näheren Erläuterung!
5. sein Blick und seine Hände
Zwei unverzichtbare „Instrumente“!
6. Tradition der Materialien, Werkzeuge und Handgriffe der Drucktechniken
Die Künstlergruppe bekennt sich zu den klassischen Druckverfahren und das im Digitalen Zeitalter.
7. Modernität
Aber genau darin wird die Modernität erkannt, sich dem Mainstream zu entziehen!
Dieses Statement kommt mit großer Wucht und Überzeugungskraft daher und offenbart keinen Zweifel am eigenen Tun. Das ist beeindruckend und aus meiner Sicht vor allem auch richtig so! Trotzig postet denn auch die Regensburgerin, Christina Kirchinger, unter dem hashtag printisnotdead! – Die alten Drucktechniken sind nicht tot! Bereits ein erster Blick in die Ausstellung unterstreicht diese Aussage. Das, was die alten Drucktechniken immer wieder jung erscheinen lässt, ist die unglaubliche Fülle an Möglichkeiten, auch der Kombination verschiedener Techniken auf ein und demselben Blatt. Wie tief muss ich die Linien ätzen? Wieviel Farbe muss ich verwenden? Wie kann ich die Fläche gestalten? Vor diesen und vielen weiteren Fragen stehen die Künstlerinnen und Künstler bei jeder neuen Arbeit, die entstehen soll.
Ich denke, dass wir nun den Punkt erreicht haben, an dem ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, zumindest die hier anwesenden vier Künstlerinnen und Künstler ein wenig näher vorstelle:
MICHEL BRUGEROLLES wurde 1946 geboren. Er absolvierte ein Studium an der École des Beaux-Arts de Clermont-Ferrand und an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts de Paris. Er ist Mitglied der Casa de Velázquez in Madrid – Träger des Albrecht-Dürer-Preises – und hat an der École Supérieure d’Art de Clermont Communauté unterrichtet. Er ist Ausstellungskurator und Vertreter der „Triennale Mondiale d’Estampes“ in Chamalières. Zudem ist er Gründer und Präsident der Künstlergruppe „Le Chant de l’Encre“. Seine Techniken sind Radierung, Malerei, Zeichnung, Objekte und grafische Gestaltung. Seine bevorzugten Gattungen sind Stillleben und Landschaft, zu seinen präferierten Motiven gehören Häuser und Flugzeuge. Hier in der Ausstellung zeigt er drei großartige Landschaftsradierungen, geschaffen mit großer Virtuosität, sowie eine Arbeit zu seinem Haus-Thema. Michel Brugerolles beherrscht sein Metier und ist ein großer Meister seines Faches!
PHILIPPE CHASSANG wurde 1968 geboren. Es heißt über ihn: „Ein Autodidakt, der sich über Praktika in die Radierung eingearbeitet hat. Nehmen Sie einen medizinischen Fachangestellten – gut organisiert, sauber und akribisch – der Comics liebt sowie die Fantasiewelt von Jules Vernes und Méliès. Setzen Sie ihn in ein Atelier voller Radierer, in dem es intensiv nach Druckfarbe riecht und beißende Dämpfe wabern. Lassen Sie ihn eine Weile im Kreise von befreundeten Radierern verweilen, und Sie erhalten im Laufe der Zeit die Leidenschaft, die Philippe Chassang für diese Kunst entwickelt hat. Eine wunderschöne Geschichte, die bei der Suche nach Balance und kreativem Glück entstanden ist.“ Wir sehen von ihm vier sehr überzeugende Arbeiten, u.a. eine Radierung, in der er sich meisterlich mit Schatten und Reflektionen auseinandersetzt.
IPIOLO, eigentlich Isabelle Pio-Lopez wurde 1957 geboren. Ihr Studium absolvierte sie an der École des Beaux-Arts de Clermont-Ferrand. Ipiolo hat an der École Nationale d’Architecture de Clermont-Ferrand unterrichtet. Sie hat ein Atelier eröffnet, wo man in Künstlerfamilien verschiedene Techniken anwendet. Künstlerisch ist sie in der Illustration, der Malerei, der Radierung, in der kinematografischen Animation und in der Plakatkunst tätig. Man kann über sie lesen: „Ihr Feld besteht aus dem Universum des häuslichen Alltags sowie ihren treuen Erinnerungen. Sie lässt die Techniken aufeinanderprallen, klebt, vereint und stellt Oberflächen und Formen auf den Kopf. Sie lässt den Rahmen hinter sich, wagt, zeichnet mit Schnipseln und das mit einer unglaublichen Feinheit. Bei ihr verschmelzen Papier, Materialien, Radierung, Farbe, Bewegung, Blick und Komposition. Ihr Werk ist ein dankbares Lächeln voller Frische und Sinn für die Kunst.“ Von Ipiolo sehen wir Mischtechniken aus Linolschnitt, Monotypie, Prägung und Ausstanzung, die in ihrem Ergebnis überraschen.
CHRISTINA KIRCHINGER wurde 1987 geboren. Sie studierte am Institut für Bildende Kunst und Ästhetische Erziehung der Universität Regensburg und ist derzeit dort wissenschaftliche Mitarbeiterin. Zudem gibt sie Radierkurse am Oberpfälzer Künstlerhaus in Schwandorf. Ich zitiere: “Aus ihren Aquatinta-Radierungen strömen unwahrscheinliche Konstruktionen, nächtliche Hütten und blinde Gebäude heraus. Alles scheint rätselhaft, man sucht nach einem Anhaltspunkt. Manchmal gibt einem eine kleine Figur einen Hinweis, die plötzliche Erscheinung einer Symphonie aus feinen Schwarz- und Grautönen. Die Technik entspricht ihrem Zweck in Perfektion. Es reizt einen, in die Welt dieser Architektin des Fantastischen einzutreten, um ihre verborgenen Weiten zu entdecken.“ Gleich sechs Arbeiten sind von Christina Kirchinger zu sehen. Sie ist das einzige nichtfranzösische Mitglied unter den 23 Künstlerinnen und Künstlern von Le Chant de l’Encre.
16 weitere Mitglieder beteiligen sich an dieser Ausstellung hier in Regensburg. Alle Arbeiten sind sehr sehenswert. Allein das ausgestellte Werk von Manuel Alba umfasst 48 kleine Radierungen, in denen er sich unter anderem mit Ikonen der Kunstgeschichte auseinandersetzt, wie Manets „Olympia“ oder Marcel Duchamps Ready Made „Fountain“! Roland Sabatier steuert fantastische Radierungen bei, die mich in ihrer absolut überzeugenden Machart an einen der wohl größten deutschen Grafiker des 20. Jahrhunderts denken lassen, an Horst Janssen! Sehr außergewöhnlich sind auch die Siebdrucke auf Stoff von Cécilien Malartre oder die großformatigen Arbeiten von Irène Weiß, um nur Einige zu nennen.
Hin und wieder gibt es auch eingeladene Künstlerinnen und Künstler, die sich an den verschiedenen Ausstellungen beteiligen können. Das ist nach meiner Einschätzung für die Mitglieder eine sehr gute Gelegenheit, sich mit anderen Kreativen nicht nur innerhalb der Gruppe auszutauschen, sondern auch neue Impulse von außen zu erhalten.
In gewisser Weise sorgt das also für eine Unruhe, die schöpferisch genutzt werden kann. Und auch die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler profitieren von dem Austausch. Durchlässigkeit statt Abschottung, so könnte man das Prinzip auch umschreiben. Und noch etwas kennzeichnet die Gruppe. Sie gibt jedes Jahr eine Mappe mit je einer Grafik eines jeden Mitglieds heraus. Die Themen sind vielfältig und reichen von der Auseinandersetzung mit den ganz Großen der Zunft, zum Beispiel Francisco de Goya, über mythologische Szenen, wie Leda und der Schwan bis hin zum neuesten Coup – der Auseinandersetzung mit der Stadt Regensburg, ihrer Geschichte, Ihren Künstlern und Wissenschaftlern oder ihrer Architektur. Sie schauen alle auf diese 20 Arbeiten an der Mittelwand!
Es sind ungemein faszinierende Arbeiten, die das ganze künstlerische Potential der Gruppe und die Vielfalt ihrer Formensprache wiedergeben. Bei der Betrachtung der Ausstellung kann man Christina Kirchinger nur zustimmen: printisnotdead – Druck ist nicht tot – und man kann ergänzen – sondern quicklebendig!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
(Anmerkung des Redners: Zitate zu den Künstlern sind dem Handout zur Ausstellung entnommen.)
Dr. Reiner Meyer
(Leiter der Städtischen Galerie im Leeren Beutel, Regensburg)